Zum „Tag für die Beseitigung sexueller Gewalt in Konflikten“ fordern die SOS-Kinderdörfer besseren Schutz für Kinder
Jedes Jahr gibt es durchschnittlich 900 bestätigte Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder in Konflikten weltweit. Im Zeitraum von 2005 bis 2020 wurden von den Vereinten Nationen über 14.000 Fälle dokumentiert. „Die Dunkelziffer liegt jedoch deutlich höher, da viele sexuelle Übergriffe nicht zur Anzeige gebracht werden“, sagt Boris Breyer, Pressesprecher der SOS-Kinderdörfer weltweit.
Was bedeutet sexuelle Gewalt?
Sexuelle Gewalt in Konfliktgebieten zählt offiziell zu den Kriegsverbrechen und umfasst neben Vergewaltigungen auch erzwungene Prostitution, Ehe, Schwangerschaft, Sterilisation, Abtreibung sowie Sklaverei. Ein Großteil der Opfer sind Mädchen und Frauen (bis zu 97 Prozent laut UN-Bericht), aber auch Jungen und Männer sind betroffen. Weltweit erlitten sechs Prozent aller weiblicher Personen sexuelle Gewalt, die von einer ihr unbekannten Person ausgeübt wurde.
Jedes dritte Kind gefährdet
Laut UN-Berichten aus dem Jahr 2019 befindet sich fast jedes dritte Kind weltweit in einem von Konflikt betroffenen Land, in dem sexuelle Gewalt als Waffe genutzt wird. In etwa 70 Prozent der Konfliktgebiete, in denen sexuelle Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt wurde, waren auch Kinder unter den Opfern.
Länder mit den meisten Fällen
In den vergangenen sieben Jahren wurde sexuelle Gewalt vor allem in Konflikten in folgenden Ländern als Waffe eingesetzt: Somalia, Somaliland, Afghanistan, Demokratische Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Sudan, Südsudan, Nigeria, Syrien, Irak, Kolumbien, Jemen, Mali. Seit 2022 steht auch die Ukraine auf dieser Liste: UN-Berichten zufolge sollen russische Soldaten ukrainische Zivilisten vergewaltigt haben. Hauptziel: Vertreibung und Machtdemonstration.
Es soll tausende Opfer geben, hunderte haben Anzeige erstattet und rund 150 (Stand März 2023) haben seit Kriegsbeginn vor Gericht ausgesagt. Aus Angst oder Scham verzichten viele auf eine Anzeige. „Viele Betroffene möchten das Geschehene auch einfach hinter sich lassen und es nicht in monate- oder jahrelangen Prozessen kontinuierlich präsent halten. Auch Geldmangel ist ein Grund, da viele sich keinen Anwalt leisten können“, erklärt Breyer.
Jahrzehntelange Traumata
Obwohl der Krieg dort bereits fast drei Jahrzehnte zurückliegt, ist dessen Aufarbeitung noch nicht vorbei. „Die körperlichen Wunden sind verheilt und die Menschen in ihren Alltag zurückgekehrt, aber die seelischen Narben sowie grausamen Erinnerungen sind geblieben“, so Breyer.
Die SOS-Kinderdörfer sind seit 1994 in Bosnien und Herzegowina aktiv und unterstützen unter anderem auch Frauen und Kinder mit psychologischer Hilfe und Präventionskursen. Was viele vergessen: Für die Opfer einer Vergewaltigung ist die eigentliche Tat nur ein Teil der Tragödie. Sie sind oft traumatisiert und tragen körperliche und emotionale Schmerzen sowie Scham mit sich. „In einigen Ländern – wie auch in Bosnien – wurde das Thema lange tabuisiert“ sagt Breyer. „Es kostete die Frauen viel Kraft, sich jemandem anzuvertrauen. Am Ende hat es Jahrzehnte gedauert, bis die bosnische Gesetzgebung Vergewaltigung als Kriegsverbrechen anerkannte und die Frauen Entschädigungen als ‚zivile Kriegsopfer‘ erhalten konnten. Respekt für den Mut der Frauen, die in Den Haag ausgesagt haben und die sich auch heute noch für die Rechte der vergewaltigten Frauen einsetzen.“
Rechtslage sexuelle Gewalt im Krieg
2001 hatte der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag bereits geurteilt, dass Vergewaltigungen im Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen eine Verletzung der Genfer Konventionen darstellen. Im Jahr 2008 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1820, die festhält, dass „Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine die Tatbestandsmerkmale des Völkermords erfüllende Handlung darstellen können“. Seit 2015 gibt es den UN-Welttag für die Beseitigung sexueller Gewalt in Konflikten, um Aufmerksamkeit auf das weiterhin aktuelle Thema zu lenken.
Präventionsmaßnahmen
In der Demokratischen Republik Kongo kommt es vor allem in den Grenzgebieten täglich zu sexuellen Übergriffen. Die SOS-Kinderdörfer leisten vor Ort medizinische und psychosoziale Unterstützung und helfen bei der Anzeige der mutmaßlichen Täter. Die Betroffenen werden von einem Anwaltsteam unterstützt, damit eine Strafverfolgung in Gang gesetzt wird.
Die SOS-Kinderdörfer leisten zudem Aufklärungsarbeit in den Gemeinden, um sexuellen Übergriffen vorzubeugen. Dies ist unter anderem in den Krisenländern Zentralafrikanische Republik, Äthiopien und Somalia der Fall.
Reproduktive Rechte
Verschleppung, Zwangsprostitution, Kinderehe, Genitalverstümmelung und erzwungene Abtreibung oder Schwangerschaft zählen zum Kriegsverbrechen Sexuelle Gewalt. „Diese Gräueltaten verstoßen gegen die Menschenrechte und nehmen den Opfern auch ihr Recht auf Selbstbestimmung“, sagt Breyer.
Mädchen und Frauen werden dabei zudem oft ihrer reproduktiven Rechte beraubt. Das aktuelle Beispiel des Russland-Krieges zeigt: „Vergewaltigte Ukrainerinnen auf der Flucht, die zum Beispiel direkt nach der Tat um die Abtreibungspille baten, erhielten diese oft nicht rechtzeitig oder gar nicht. So müssen sie zusätzlich zum eigentlichen Trauma noch mit der Tatsache zurechtkommen, womöglich ein Kind ihres Peinigers austragen oder einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu müssen.“ Es müsse laut Breyer schnelle und unbürokratische Lösungen für die Opfer geben. Weitere Auswirkung des Krieges: Die Zahl der Geburten in der Ukraine ist 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent gesunken. Dazu kommt der Anstieg von Fehlgeburten aufgrund der Belastung und fehlenden medizinischen Versorgung im Ausnahmezustand Krieg.
SOS-Kinderdörfer weltweit
In den SOS-Kinderdörfern weltweit werden Kinder und Frauen unterstützt, die Opfer von sexueller Gewalt wurden. Es befinden sich auch Kinder in der Obhut der Hilfsorganisation, „deren Mütter, bei einer Vergewaltigung schwanger wurden. Sie geben ihr Kind weg, weil seine Präsenz sie immer wieder an das traumatische Erlebnis erinnert“, erklärt Breyer. Teil der SOS-Programme sind auch Aufklärungsarbeit und Präventionsmaßnahmen. „Das Ziel ist, dass kein einziges Kind mehr Gewalt erfahren muss. Wir müssen die Kinder noch besser schützen!“
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Quelle: Boris Breyer, Pressesprecher, SOS-Kinderdörfer weltweit
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